Pappeln

Quer lag der Baumstamm auf der Straße. Gerlach stoppte den Wagen. Als wir ausstiegen, verschwand die Sonne hinter den Wolken.
"Verdammtes Pech!", sagte Gerlach, "der Sturm muss ihn umgeworfen haben." Wir kletterten auf die andere Seite.
"Es ist eine Birke", sagte Gerlach. Ich hatte ihn für eine Pappel gehalten, aber ich verstand nicht viel von den Bäumen.

Wenige Tage zuvor hatte es aufgehört zu schneien. Der Schnee war bis auf schmutzige, braune Reste zusammengeschmolzen, die am Waldrand kleine Inseln bildeten. Die Tannen schufen ein schattiges Gewölbe. Es war ein gewöhnlicher Tag im Februar. Den ganzen Morgen hatte es geregnet. Es herrschte ein starker Westwind. Vom Meer her hatte er sich über das Land gestürzt. Jetzt war es Abend. Der Sturm ließ nach.

Wir werden beobachtet, ging es mir durch den Kopf. Aufmerksam betrachtete ich den Wald. Gerlach bückte sich, fasste einen dicken Ast und begann keuchend zu zerren. Sein Gesicht war ungewöhnlich bleich, seine Augen wirkten wie tot. In diesem Augenblick begann es zu regnen. Einen Moment brach die Sonne durch die Wolken. Wenn sie höher stünde, dachte ich, würde ein Regenbogen erscheinen, so aber kommt die Nacht. Ungewöhnlich schnell wuchs sie aus den Bäumen, gähnte aus dem Unterholz. Schließlich stand sie feindlich und fremd um uns.

"Wir werden zurückfahren müssen", sagte ich. Gerlach schüttelte den Kopf:
"Wenn du mir hilfst, werden wir es schaffen." Ich stieg über den Baumstamm und bückte mich nach einem Ast. Jetzt spürte ich es ganz deutlich; im Dunkel des Waldes lauerte etwas. Ich spürte es körperlich. Es war, als legte mir jemand eine sanfte Hand auf die Schulter. Es war jetzt sehr still. Das Rauschen des Regens verstärkte den Eindruck dieser beklemmenden Stille.

"Ich hasse Wälder", sagte ich. Gerlach rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn:
"Wir werden doch zurückfahren müssen", sagte er.
"Das habe ich doch gleich gesagt", antwortete ich. Wir kletterten über den Stamm zum Auto. Gerlach startete den Motor und wendete. Ich spürte dass es näher kam. Es kam mit den Schatten und berührte uns sanft, wie der Winter das Land berühren mag, ehe es stirbt. Die Musik rieselte aus den Lautsprechern und versickerte hinter den Sitzen. Gerlach reichte mir eine Zigarette. Wir rauchten schweigend. Müde schlängelte sich die Straße durch den Wald.

"Wir werden den Wald wohl nie mehr verlassen", sagte Gerlach. Die Glut unserer Zigaretten leuchtete auf unseren Gesichtern. Der Motor brummte ruhig. Wir saßen fast unbewegt, zogen an den Zigaretten und schwiegen. Ich wusste, dass es im Auto saß. Es war bei uns und würde uns nicht mehr verlassen. Ich spürte es auf den Rücksitzen, spürte es in meinem Nacken, an meinem Ohr: Ein leises an- und abschwellendes Raunen, ein Gewisper von Stimmen, die ich nicht verstand.

Der Wagen folgte einer langgezogenen Kurve. Plötzlich sahen wir etwas im Scheinwerferlicht.
"Halt an!", rief ich. Gerlach bremste. Es war eine junge Frau, die sich dem Wagen langsam näherte und zustieg ohne uns zu grüßen.
"Wir fahren in die Stadt", sagte Gerlach. Ich wunderte mich über seinen erschreckten Blick in den Spiegel. Schweigend fuhr er weiter. Eine Hand hatte der Fahrgast auf die Lehne meines Sitzes gelegt: eine bleiche Hand mit sehr langen, äußerst zarten Nägeln. Wenn der Wagen sich schüttelte, begannen sie sich wie zarte Blätter zu bewegen. Ab und zu verschwand die Hand im Dunkeln, blieb verschollen, kehrte aber stets zurück zu ihrem alten Platz. Ich beobachtete ihr Erscheinen und Verschwinden, ohne mir etwas anmerken zu lassen.

"Fahren sie schon lange?", fragte sie.
"Schon viel zu lange", antwortete Gerlach.
"Es ist ein weiter Weg hinaus", sagte ich.
"Man wird weiterfahren müssen", sagte Gerlach. Ich hörte, dass sie leise lachte. Ich drehte den Kopf. Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen, eines ihrer Augen aber blickte mich dunkel an, und ich wusste, dass ich sie kannte.

"Ich liebe Pappeln", sagte sie. Erschreckt wendete ich mich ab und sah nach vorn.
"Es ist, als führen wir im Kreis", sagte Gerlach. Der Regen setzte wieder ein. Die Scheibenwischer bewegten sich langsam über die Scheibe.
"Es ist gut, dass sie noch funktionieren", sagte Gerlach.

"Ich liebe Pappeln", flüsterte es an meinem Ohr. Wütend drehte ich mich zu ihr, aber ihr Gesicht war plötzlich so dicht vor mir, dass ich keine Einzelheiten zu unterscheiden vermochte. Sie war wie der Wald, dunkel und von der Nacht erobert. Als sie mich küsste war es, als würde ich Schatten trinken.

"Wenig mehr noch", stöhnte Gerlach. Das Scheinwerferlicht wurde schwächer.
"Was machen wir, wenn es erlischt?", fragte ich.
"Dann schlafen wir bei den Tannen", antwortete sie. Ich sah in meiner Phantasie ein Bett aus Reisig vor mir, ein kaltes, feuchtes Bett aus Reisig. Ich nahm mir eine Zigarette und rauchte.
"Gib mir auch eine", sagte Gerlach gequält. "Es ist wie verhext".

"Haltet an und baut euch ein Bett unter den Tannen", flüsterte sie. Ich spürte jenes Fremde zwischen uns emporwachsen. Wie die Nacht wuchs es uns an den Körpern hinauf.
"Wir müssen den Wald verlassen", sagte Gerlach. Das Licht war nun erloschen. Wir sahen nichts mehr. Gerlach entzündete ein Streichholz.

"Wohin fahren wir?", fragte er. "Wohin bewegen wir uns?" Außerhalb war alles Eins. Wir bewegten uns durch eine nicht enden wollende Dunkelheit, ohne Orientierung, ohne Hoffnung, sie jemals wieder zu verlassen.

"Fahr weiter", sagte ich. "Fahr weiter!" Leise erwiderte er: "Noch halte ich nicht."


Auszug aus dem Erzählband "Gefährten der Reise" von H.W. Baehr, erschienen 2003 im Haller Verlag.
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© 2003-2004 H.W. Baehr - Letzte Änderung/Last Edited: 29.4.2004