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Grasnarbe - Essays |
Descartes' Kinderfragevon Dominik DombrowskiIch möchte mit einem Aphorismus Nietzsches beginnen:
"Problem des Philosophen und des wissenschaftlichen
Menschen. - Einfluß des Alters; depressive Gewohnheiten (Stubenhocken à
la Kant). Überarbeitung; unzureichende Ernährung des Gehirns; Lesen. -
Wesentlicher: ob nicht ein Décadence-Symptom schon in der Richtung
auf solche Allgemeinheit gegeben ist: Objektivität als
Willens-Disgregation ( - so fern bleiben können ...).
Dies setzt eine große Adiaphorie gegen die starken Triebe voraus: eine Art
Isolation, Ausnahmestellung, Widerstand gegen die Normal-Triebe. Sicherlich liegt ein Grund, weshalb es heute keine Philosophen mehr gibt, im Verlust der Notwendigkeit des Willens zum Wesentlichen. Es ist ja wahr, daß selbst im Nihilismus - oder gerade in ihm - eine trotzige Zähigkeit liegt, im Zu-Ende-Gedachten weiterzudenken. Die Wellen, die ans Gestade rollen, werden flacher und verbreiten sich ... und selbst lang im Land belecken und überschlagen sie sich noch. Derartige Wogen schlagen: Idealismus, Logik, Phänomenologie, Absurdität, Existentialismus usf. Nahezu jede dieser Philosophiewissenschaften ist reaktionär, also eigentlich eine Theorie, die über ihre Selbstbefriedigung kaum hinausgeht, stubenhockt, immanentes Imitieren von "Denkerpose" bleibt. Im Spätboot des Christentums - heute - gilt als bedeutsam, wer in der Maske der Bescheidenheit Größe parodiert: "Ich bin Philosoph", das würde ohnehin keiner mehr sagen wollen, eher: Ich philosophiere ein wenig bei einer guten Flasche Wein. Die Attitüde ist die Philosophie, der Philosoph eine Art Weihnachtsmann in Kordhose, ohne Geld selbstverständlich. Der Philosoph braucht immer kein Geld, er ist stets "Lebenskünstler", er lächelt im asketischen Ideal-Idyll. Schreiten wir das philosophische "Hintertreppen-Abendländle" ab, finden wir uns in einer Art moribundem graphologischen Gottesdienst; Bücherluft - ernst und wichtig, Mickey Mouse hockt in Dürer's Melancholiapose. Nicht die Erkenntnis selbst, sondern die Geste, das Gehabe der "Wahrheitssuche" ist dem Philosophiespielenden wesentlich.
Es gibt wenig Philosophie: Wer bei Sinnen ist, und - während er mit beiden
Beinen auf der Erde steht - dies auch fraglos anerkennt, ist weise. Wer bei
einem Wort wie "Fußgängerzone" stutzt, oder keinem Gespräch mehr
folgen kann, ist weise. Philosophie ist nichts als die Einsicht, am Leben
zu sein.
Es ist beinahe schon ein Symptom, das die intelligentesten philosophischen
Schriften den Sondermüll des Abendlandes abtragen. Eine solche Nadel im
Heuhaufen sticht uns mit Voltaire entgegen: Im Mai 1947, als er eine Einladung angenommen hatte, in der Jowett Society zu sprechen, redete Wittgenstein das einzige Mal in seinem Leben vor Philosophen aus Oxford. Dabei sollte er auf ein Referat erwidern, das Oscar Wood - der Sekretär dieser Gesellschaft - über Descartes' "Cogito ergo sum" gehalten hatte. Wittgenstein sagte: "Wenn jemand zum Himmel aufblickte und zu mir sagte: 'Ich glaube, es wird regnen, deshalb existiere ich', dann würde ich ihn nicht verstehen."5 Man unterbrach Wittgenstein mehrfach, um ihn zu einer Antwort auf die Frage zu zwingen, ob Descartes' cogito gültig sei. Dieser wich aber jedesmal aus, womit er bekundete, daß er sie für irrelevant hielt. Unter diesem Gesichtspunkt - dem der Irrelevanz Descartes' - sind auch die Bemerkungen Voltaires über diesen zu deuten. Voltaire konnte Descartes einfach nicht für voll nehmen, wer will es ihm verübeln? , da er natürlich nicht aus der Immanenz heraus für ein solches "Wahrheitssystem" argumentieren mochte. Vielmehr ist es eher schon überraschend - ähnlich einem Dichter, der aus assoziativer Laune heraus den Wert einer Waschmaschinengebrauchsanweisung für die Literatur diskutiert -, daß er Descartes überhaupt erwähnt. Tatsächlich hat sich Descartes eine Kinderfrage gestellt, die das Abendland dankbar zur Kenntnis nahm, schon deswegen, weil es sich dadurch sorglos weiter besorgen konnte. Descartes hat da nicht einmal eine Tradition neuen Denkens ins Abendland geläutet, wie allgemein allerhand Akademie feierlich weihzuräuchern sich nicht entblödet. Die Verzweiflung des René vor seinem holländischen Klausurkamin war eine mehr oder minder vorauszusehende, eigentlich konsequente Wegmarke im Fortschreiten der Gottessüchte. Man ist versucht, sie rückblickend irgendwie mit dem Gefühl einer erwartungsgemäßen Dummheit zu betrachten, vor der man immer aufs neue erstaunt, ähnlich wie vor Insekten, die wieder und wieder in ein Flammenlicht fliegen um dort zu verbrezeln. Neu war eigentlich nur die Methode des Gebets: "Lieber Gott, wenn ich schon ein Sünder bin, der sein Kreuz zu tragen hat, so will ich vorher auch noch ein bißchen übers Wasser gehn dürfen. Also zweifle ich am Wasser und lege meinen Verstand trocken." Die Trockenlegung des Verstandes
ist nun die Wissenschaft. Robert Musil gibt ein Beispiel: Ein solches einfaches Intuitionsvermögen hätte eigentlich auch Descartes in den Kamin pissen lassen können und gen Italien ziehen, statt bei der schwedischen Königin Christine um 5 Uhr morgens zur Philosophie zu rapportieren und daran zu krepieren. Aber - ist er überhaupt gestorben? Denn es besteht ja kein Zweifel daran zu zweifeln, daß er im Tod zweifellos nicht denken kann, also muß er noch irgendwie sein, zweifelsohne als der Nicht-Denkende zwar, aber seiend eben - wenn auch totseiend. Kurzum, das Rechnen ist ein Rückschritt, es ist die Art
von Onanie, die wirklich das Rückenmark schädigt - und ist feige und neugierig
wie nur irgendeine Zeitung. Rechnen interessiert kein Schwein, es weitet
nur das Ausgerechnete aus; der intuitive Mensch aber - der, der sich
nicht hinterfragt - verkümmert darüber: Aber wer ist jener Geist der Erzmutter eigentlich? Nicht die Wissenschaft, nein, sie ist nur die böse Schwiegermutter, auch nicht Descartes; er ist mit seinen Trägheitsgesetzen, seinen analytischen Geometrien, jenem "Cartesischen Koordinatensystem" oder den Brechungsgesetzen (man muß lachen bei diesen Begriffen) nur die altjungferliche Großtante des Rechnens. Daß Voltaire -nebenbei - in dieser Hinsicht "nichts zu bieten hat", ja, daß ihm das ernstlich auch noch vorgeworfen wird, ist so komisch, wie einen Vogel auszuschimpfen, weil er ohne Propeller fliegt, da er keine Ahnung hat, wie man einen baut. Descartes ist also nicht ganz der Geist, er ist ein Symptom des Geistes, und als solcher geistert er mir tatsächlich untot um die Nase, sitze ich doch vor einem Computerschirm, um hiermit auch für die Blöden einen Ansatz zur Kritik zu schaffen. Der Erzmuttergeist aber ist die Theologie. Das Priesterideal, das sich seine vornehmste Nische in der Wissenschaft gegraben hat, ist des cartes Kern. Denn das, was Descartes von Voltaire wohl am meisten unterscheidet, ist, daß ersterer kein Philosoph ist, sondern der Papst als Wille zur Wissenschaft. (Übrigens ist "Renatus Cartesius" - das kann man ihm ja zubilligen - wohl immerhin die Erzmutter aus der das Papamobil hervorging, aus dem jetzt der zeitgenössische katholische Oberonkel immer so lustig herauswinkt, daß man ihn am liebsten fragen möchte: "Was kosten drei Erdbeerkugeln mit Sahne in der Waffel?") Nicht Philosophie wurde also durch Descartes betrieben, sondern eine ungefähr tausendsiebenhundert Jahre alte Symptomatik wurde auf den denkbar dankbarsten Begriffsnenner gehieft: "Logik, Mathematik, Physik" aus dem Geiste des asketischen Ideals. Diesem konkurrenzlosen Ideal geht Nietzsche in seiner dritten Abhandlung der "Genealogie der Moral" (1887) anhand ihrer wichtigsten Repräsentanten - Künstlern, Philosophen, Heiligen, Priestern und Wissenschaftlern auf den Grund. Allen gemeinsam ist ihr Wille nach einem "Sinn" des Daseins als ein Wille zum Nichts, denn der Mensch will eher "noch das Nichts wollen als nicht wollen." Welcher Voraussetzungen, welcher psychologischen Kniffe bedurfte es, daß die Menschheit ihr Daseinsziel im asketischen Ideal fand? Nietzsche sieht die Ursache darin, "daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand - er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage: 'Wozu leiden?' Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!"8 Die zentrale Figur, der eigentliche Repräsentant des Ernstes, der Urgestalter der lebensverneinenden Weltanschauung, dem Descartes auf den Leim gegangen ist wie eine Sommerfliege in der Klostertischlerei, ist der asketische Priester. Das asketische Ideal ist sein Wille zur Macht, er praktiziert damit jenen Selbstwiderspruch: asketisches Leben - und setzt ihn dadurch um, daß er als eigentlich lebensfeindliche Spezies eine Wertung zum verneinenden Dasein hin vornimmt. Der asketische Priester will also nicht Herr werden über etwas am Leben, sondern über das Leben überhaupt. Als eine "Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig will"9 genießt dies Priesterideal den "Triumph gerade in der letzten Agonie."10 Das Leben wird so als Irrweg behandelt, den man endlich rückwärts gehen soll, und an Descartes' Zweifelsgezank zeigt sich, daß es wohl ein Interesse des Lebens selbst sein muß, daß ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Wenn also ein solcher verneinender Wille zu philosophieren beginnt, tut er die Vernunft als Irrtum ab, die Wahrheit wird ihm zur Illusion. Descartes psalmodiert: "Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahintergekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben."11 Solche gequirlte Kacke kann man auch beim Chinesen von Königsberg erschnüffeln, bei dem eine resolute Umkehrung gewohnter Perspektiven, die ja erst einen Begriff von der Sache geben sollen, symptomatisch ist: "(...) 'intelligibler Charakter' bedeutet nämlich bei Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der Intellekt gerade soviel begreift, daß sie für den Intellekt - ganz und gar unbegreiflich ist."12 "Erkenntnis an sich", "reine Vernunft", "absolute Geistigkeit" werden so als kontradiktorische Begriffe kennzeichnend für den Fortschritt des Priesterideals: sie eliminieren den Willen und kastrieren den Intellekt. In der Wissenschaft zeigt sich somit die "vornehmste Form" des asketischen Ideals, denn sie ist bisher keine Tätigkeit, die aus eigener Kraft Werte setzt, sondern sich dadurch als mit dem Ideal besonders im Bunde beweist, daß sie, wie jenes, unermüdlich an eine ethisch-determinierte Wahrheit glaubt. Gerade die paranoide Denkweise Descartes' - "mittels des methodischen Zweifels Sicherheit erlangen zu wollen" - ist deshalb zuerst einmal auf Moral gegründet und somit, durch ihren unbedingten Glauben an den Wert der Wahrheit, größtenteils Selbstzweck. Sie geht als solche mit der Wahrheit notwendig um in der Gestalt der Überlieferung und der still beschaulichen Forschung, und zwar unter religiösen Bedingungen; von dieser Art der Wahrheitssuche gilt, "wenn nicht der christliche Glaube, sondern eine andere im Grunde unbefragte Lebenshaltung trägt, allgemein, daß vielleicht die 'Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein werden, sie zu suchen.'"13 Man erkennt in der Wissenschaft ein Podium für eine fast willkommene Entselbstung, eine Zuflucht für Mißmutige mit schlechtem Gewissen (und es ist richtig, wenn Voltaire von der "imaginären Welt des Descartes" spricht), die ihre rastlose Tätigkeit des Erkennenwollens als Mittel der Selbstbetäubung verwenden: "Die Tüchtigkeit unserer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiß, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst - wie oft hat das alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung: Kennt ihr das?... Man verwundet sie - jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht - mitunter durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt sie außer Rand und Band, bloß weil man zu grob war, um zu erraten, mit wem man es eigentlich zu tun hat, mit Leidenden, die es sich selbst nicht eingestehen wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur eins fürchten: zum Bewußtsein zu kommen..."14 So ist das kartesische Cogito-Comical nichts als das Pfeifen nach Gott im Walde der Wirklichkeit; eine Sich-Hineinduckerei in die "Methode", dessen Motiv einer willentlichen Betäubung des Leidens hinter irgendwelchen "Beweisketten" verschleiert wird, an deren Fußangeln die Mathematik hechelt. Es ist gerade diese Ignoranz, diese Wirklichkeitsverdrängung, die Wissenschaft und asketisches Ideal sich gegenseitig bedingen läßt, oder richtiger: die das Priesterideal sich als Wissenschaft verkleiden läßt; denn in der Wissenschaft versteckt sich die Unruhe der Ideallosigkeit, also der Drang nach Sicherheit und letztlich nach Religion. Unterm Strich handelt es sich also um eine Verkehrung wissenschaftlicher Gewißheit zur angstvoll festgehaltenen sichernden Form beliebiger Lebenswahrheit. Die Verwandtschaft zwischen asketischem Ideal und Wissenschaft zeigt sich übrigens nicht zuletzt auch in physiologischen Symptomen (rudimentäres Geschlechtsleben, Eßstörungen, affektiert-empfindliche Speisewahl, Wetterfühligkeit, Vergnügen am Erzählen von Krankheitserlebnissen, Arbeitsmoral, Tablettenästhetizismus, erotisches Empfinden beim Anblick von Fabriken und Maschinen); beide führen zu einer Verarmung des Lebens, zur Selbstverachtung des Menschen, der, von Kopernikus verkleinert und ins Nichts gerollt, sich seiner Wichtigkeit beraubt fühlt, oder besser: fühlen darf!. - "Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten / und was die Menschheit wob und wog, / Funktion nur von Unendlichkeiten -, / die Mythe log" -, so Benn in vollendet geständniszynischer Manier, das asketische Ideal hinter der Wissenschaft entlarvend, wenn auch das asketische Ideal des Künstlers in sich selbst beschwörend. Durch die Infragestellung des Menschen, die "Anzweifelung", hat sich die Wissenschaft von den Theologen nur in dem Sinne emanzipiert, als sie in die Lage versetzt wurde, ihrerseits in beharrlichem Glauben auf die Suche nach einem Sinn sich zu begeben. Sie hat sich jenen Schleichweg erschlichen, "auf dem sie nunmehr auf eigene Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den 'Wünschen ihres Herzens' nachgehn"15 durfte. Damit war die Wissenschaft nihilistisch geworden, das asketische Ideal konnte triumphieren: "Gesetzt, daß alles, was der Mensch 'erkennt', seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im 'Wünschen', sondern im 'Erkennen' suchen zu dürfen!... 'Es gibt kein Erkennen: folglich - gibt es einen Gott': welche neue elegantia syllogismi! Welcher Triumph des asketischen Ideals!"16 Faßt man alle Wissenschaftlichkeit unter die Hauptthese Nietzsches, was asketische Ideale bedeuten - nämlich lieber noch das Nichts wollen als nicht wollen, ist ihre Zielrichtung im Grunde genau dieselbe wie die des décadence-Künstlers: das Vergnügen (des manisch Unbewußten) an tragischen Gegenständen - mit dem Unterschied, daß der Wissenschaftler seine Leidenschaft für das Sinnlose nicht trompetet, sondern sucht, aufsucht und als neue Erkenntnis hervorzubringen sich befleißigt. Das Wahrheitsdogma bietet ihm dabei ein nahezu unerschöpfliches Spektrum an Orientierungspunkten. Zuletzt ist es gerade jener Wille zum Wert der Wahrheit, der es den Wissenschaftler tragisch empfinden läßt, daß Gott tot ist. Das macht diesen aber lebendiger denn je, da es sich ja hierbei um eine Erkenntnis handelt, die ihn, den Wissenschaftler, weitertüfteln läßt - wieder sein Kreuz tragen läßt; er darf daran kranken, daß es keinen Gott gibt. Damit befindet er sich wieder unter dem asketischen Ideal, welches ja nicht etwa von Gott bewirkt wurde, als diesen vielmehr erst verursacht hat, wie Nietzsche sinngemäß im "Ecce Homo" feststellt. Daß Wissenschaft in dieser Verkehrung an die Stelle der Religion tritt, sich gleichzeitig aber atheistisch verhält, ist deshalb kaum verwunderlich. Aus der obigen Perspektive heraus kann der Atheismus, durch seine immanente Betroffenheitssymptomatik, geradezu als der Kernpunkt des asketischen Ideals gelten: "Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich - also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheißungen der Religionen."17 In "Jenseits von Gut und Böse"(1886) skizziert Nietzsche den Gelehrten, den "wissenschaftlichen Menschen", als einen Durchschnittsmenschen, ein objektives, wackeres Uhrwerk, das weder "zeugt" noch "gebiert", "er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmäßigkeit und Maß im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für seinesgleichen und für das, was seinesgleichen nötig hat, zum Beispiel jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welche es keine Ruhe zur Arbeit gibt."18 Dieser ideale Gelehrte, ein mit seinem wissenschaftlichen Instinkt "kostbar ausgestattetes Werkzeug", gehöre aber "in die Hand eines Mächtigeren" und darf eben kein Selbstzweck werden. Der Mächtigere, der "höhere Mensch" ist hier der, der das asketische Ideal durchschaut, indem er imstande ist, den Willen zum Wert der Wahrheit zu problematisieren; der Mächtigere, das ist für Descartes Voltaire, der uns belehrt, nichts vom Descartes zu glauben, der Mächtigere ist aber auch Wittgenstein, der den geometrisierenden Lümmel ganz einfach für irrelevant hält. Quellenverzeichnis1) Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Insel-Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S.324, Aphorismus 444.zurück zum Text 2) Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Insel-Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S.406. zurück zum Text 3) Friedrich Haller: Sonnentau, Cuxhaven und Dartford, 1996, S.94. zurück zum Text 4) Friedrich Haller: Sonnentau, Cuxhaven und Dartford, 1996, S.92. zurück zum Text 5) Ray Monk, Wittgenstein, Stuttgart, 1994, S.526. zurück zum Text 6) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg, 1987, S.570. zurück zum Text 7) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg, 1987, S.39f. zurück zum Text 8) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.147. zurück zum Text 9) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.106. zurück zum Text 10) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.106. zurück zum Text 11) René Descartes, Meditationen, Hamburg 1960, S.5 f. zurück zum Text 12) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.107. zurück zum Text 13) Vgl. dazu Karl Jaspers, "Nietzsche", Berlin - New York 1981, Seite 178. zurück zum Text 14) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.135. zurück zum Text 15) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.141. zurück zum Text 16) Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, München 1988, S.142. zurück zum Text 17) Vgl. dazu Karl Jaspers, "Nietzsche", Berlin - New York 1981, Seite 179. zurück zum Text 18) Friedrich Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse", München 1981, S.97. zurück zum Text |